D i e   B e r l i n e r   M a u e r

 

Drittes Kapitel: Die Wende

 

Es konnte einfach nicht mehr lange gut gegangen sein. Die DDR hatte sich verkalkuliert. Die Bürger fühlten sich immer mehr eingeengt.  Durch Westkontakte, die vom kommunistischen Staat nicht mehr ausreichend kontrolliert werden konnte, wurde das System  immer mehr durchlöchert, unglaubwürdiger.

Was niemand für möglich gehalten hätte, die Bürger der DDR fingen in Leipzig, Dresden und anderen Teilen der DDR an gegen ihren Staat zu demonstrieren.

Wir erinnern uns:

 

Die Führung der DDR war auch auf sich allein gestellt, denn mit der Hilfe und Unterstützung aus Moskau konnten sie schon lange nicht mehr rechnen.

Im April/Mai 1989 wurden die Grenzen von Ungarn nach Österreich geöffnet.

Am 30. September 1989 verkündete der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher den in die Deutsche Botschaft in Prag geflüchteten DDR-Bürgern, dass sie zum Westen hin ausreisen dürften.

 

Als dann am 09. November 1989 bei einer Pressekonferenz des Zentralkomitee der SED, Günter Schabowski, die unverzügliche Reisefreiheit für die DDR-Bürger verkündete, war es zu spät und Tausende drängten zum Grenzübergang an der Bernauer Straße nach Westberlin.

 

Der Druck der Bürger aus der DDR war so stark, dass man diesem dann nachgab, zuerst Einzelne zum Westen durchließ, dann jedoch dem Drängen ganz nachgab.

Wie in der Französischen Revolution bei dem Sturm auf die Bastille, bevölkerten die Ossis Westberlin, Geschäfte, Straßen, Kaffees und Restaurants. In den Folgetagen wurde ihnen auch weiter das „Begrüßungsgeld“, einhundert DM West, ausgezahlt, was eine Unterstützung für jeden einreisenden Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sein sollte.

 

Aber nicht genug, es ging zum Anfang auch, dass man dieses Geld mehrfach entgegennahm, da in den ersten Tagen des Ansturms keine Verwaltungsbeamter im Westen einen genauen Überblick hatte, zumal ein datenmäßiger Abgleich nicht erfolgte und Personalausweise nicht immer vorgelegt werden konnten, da diese „verloren“ oder „entwendet“ waren.

So nutzte man fremde Namen, um noch einmal die 100 DM West zu erhalten. Alles war hier möglich.

 

Der Sturm auf Westberlin hielt noch tagelang an. Mit den Bemerkungen „Ihr seid lange genug bequem und frei gefahren!“  besetzten die Ossis U-Bahnen, S-Bahnen und Busse. Die Wessis wurden aus den Verkehrsmitteln herausgedrängt und man verlangte auch noch, nicht zahlen zu müssen.

 

Einfallsreich waren sie schon, die Ossis, wenn es darum ging auf mehr oder weniger „illegale Art“ etwas verdienen zu können. Den Andrang der ersten Tage nutzten sie dann auch reichlich bei Ladendiebstählen und der „Erfindung des doppelten Einkaufswagens“.

In einem Supermarkt oder größeren Kaufhaus wurden zwei Einkaufswagen mit den gleichen Waren bepackt. Einer der Wagen wurde dann an der Kasse bezahlt.

Das Geschäft wurde erneut betreten, der zweite Einkaufswagen genommen und die Kasse wieder verlassen, mit der Bemerkung: „Ich musste noch einmal hineingehen, da ich etwas verloren hatte, hier ist mein Kassenbon, ich hatte ja schon bezahlt.“

 

Dreistigkeiten waren kaum zu überbieten, wenn man einem älteren Menschen erklärte „Warum nehmen sie meinen Einkaufswagen weg?“, wenn kurz zuvor der Einkaufszettel, der achtlos weggeworfen worden war, aufgehoben- und als Beweis vorgezeigt werden konnte. Die hinzu gerufene Polizei war wegen des „Anscheinbeweises“ oftmals völlig machtlos.

 

„Mauernspechte“, zu denen Berlinbesucher, Ost- und Westberliner gehörten, versuchten Teile des Mauergesteins mit allem, was sie als Werkzeug benutzen konnten, abzuschlagen. Als Souvenir oder Verkaufsgegenstand, Man schaffte es, riesengroße Löcher in die aus Stahlbeton gegossene Mauer zu schlagen.  Professionellere Händler kamen da schon mit Spezialwerkzeugen an, bauten sich Gerüste auf, um so an die oberen Teile der Mauer gelangen zu können.

  

 Nachdem die ehemaligen Todesstreifen von Minensperren und weiterem Stolperfallen gereinigt waren, entstanden riesige Freiflächen, die anfangs als Flohmärkte genutzt wurden. Hier wurde alles verhökert, womit man Geld machen konnte, auch heutzutage noch.

Es war schon erstaunlich, was bei so manchem Ostdeutschen alles auf dem Dachboden, im Keller oder in den Scheunen „schlummerte“.

Bis zu wertvollen Oldtimern, Gemälden und antiken Sachen war alles dabei, was man sich nur erträumen konnte. Aber wer hätte das zu DDR-Zeiten überhaupt haben wollen, da hatte es kaum einen interessiert.

 

Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass viele Ossis über die Leisten gezogen wurden, da sie anfangs den Wert ihres Hab und Gutes überhaupt nicht einschätzen konnten.

 

Mit die ersten, welche die Flohmärkte „bevölkerten“, waren die Vietnamesen mit ihren Zigaretten.

Obwohl es sich meist um Billigprodukte aus den osteuropäischen Ländern handelte, boomte der Absatz, vorbei am deutschen Fiskus.

 

Andere Zigaretten kamen massenweise aus dem Hamburger Freihafen, wo ganze Lkw-Ladungen, für die russischen Besatzungsmächte in Containern lagerten.

Oftmals verschwanden ganze Lkw-Ladungen oder die Fahrer wurden auf offener Straße überfallen und ihre Fahrzeuge verschwanden.

 

Ein riesengroßer Markt und Unmengen von Zigaretten.

Durch die fast gleichzeitig mit der Mauer geöffneten Grenzen zu Osteuropa, öffnete sich nicht nur im Berliner Raum, ein riesengroßer Schwarzmarkt, wo sämtliche Materialien und Produkte zu haben waren, auch Duplikate, die man mit „Originalplaketten“ versehen hatte konnten billig erworben werden, dessen Material oft nicht weniger wert, als das im Original war.

Auch heutzutage profitieren nicht nur kleine Händler, sondern auch Beamte, Politiker und ganze Staaten davon.

Die in Ostberlin zurückgelassenen Russen begannen ihre Ausrüstung zu verscherbeln.

Neben Uniformteilen, Waffen wie Gewehre, Pistolen, Handgranaten gab es sogar noch gebrauchsfähige Panzer. Teilweise waren diese zwar schon "ausgemustert" worden oder stark verrostet, aber für "Bastler und Tüftler" war immer noch etwas zu machen.

Immer wieder einmal wurden gewaltsam zu Tode gekommene Soldaten, Vietnamesen oder aus Osteuropa stammende Personen in den Wäldern um Berlin aufgefunden, die sich zu sehr in dem "Handel" des Schwarzmarktgeschäftes engagiert hatten.

In dem ganzen Organisationsgetümmel war es auch nicht verwunderlich, dass das Interesse einer Aufklärung unterging.

 

Und da waren sie auch wieder! Die billigen Arbeitskräfte aus der „DDR“, die ja nun der Westen war.

Sie konnten ihren Verdienst zwar nicht mehr 1:4 umtauschen, verdienten auch nicht mehr als die Westdeutschen, aber sie hatten immer noch mehr als ihre Landsleute im „Hinterland“.

Auch hatten sie wenigstens eine feste Arbeit, während die teuren Arbeitskräfte aus dem Westen Arbeitslosengeld beantragten.

Wo diese auch alle beschäftigt wurden, das kann man sich kaum vorstellen.

Bis in die höchsten „Chefetagen“ stellte man sie ein.

Überall dort, wo sie im Rahmen einer Planwirtschaft und eines volkseigenen Betriebes wenig oder kaum etwas dazugelernt hatten.

Dafür wurden sie zum Teil schneller wieder entlassen als sie sich das erträumt hatten, denn es gab ja genug von ihnen.

 

Nicht nur die Ossis waren diejenigen, die vom „großen Geld“ anlockt wurden. Schnell waren Autohändler, Banken, große Marktunternehmen, Kaufhäuser und Supermärkte zur Stelle. Sie wussten ja, im Osten war nichts und da gab es auch nichts.

Also nichts wie hin dort. Die Unternehmen hatten ihre Waren im Großhandel billiger erworben, konnten daher auch den Verkaufspreis in der ehemaligen DDR entsprechend kalkulieren.

 

Die Ossis hatten durch ihre Marktsituation in der DDR teilweise auch genug ansparen können und gestaffelt nach dem Alter wurden ihnen 2.000 bis 6.000 Ostmarkt eins-zu-eins umgetauscht.

 

Später waren es dann auch schon größere Beträge.

Insbesondere Autohändler, Banken und Versicherungen nutzten das sofort aus. Massenweise „belatscherten“ sie die Ossis mit fast schon „betrügerischen Machenschaften“. Wer hatte in der DDR schon damit gerechnet, dass man für ein Auto plötzlich Steuern und Versicherungsbeiträge zahlen musste.

Man hätte ihnen ja auch sagen können, dass nun die Steuer- und Versicherungsgesetze des Westens Geltung haben. Aber wozu denn auch?

 

Nun stehen die alten „Rostlauben“ der Autohändler wieder im Westen herum.

Wozu sollte man Grunderwerbs- und Versicherungssteuern bezahlen, wenn plötzlich Eigentümer aus dem Westen auftauchten, die ihnen das bisher billige Einfamilienhaus wieder wegnahmen.

 

Erst viel zu spät erkannte man, dass der schwerkranke Opa auch keine Lebensversicherung mehr gebrauchte, da die Versicherungsprämie wegen der  krankhaft bedingten Vorbelastungen auch nie zur Auszahlung gekommen wäre.

Aber da hatten die Banken und Versicherungen das Geschäft schon gemacht.

 

Für die Unternehmen und Arbeitnehmer in Berlin war es von nun an mit der „Schlemmerei“ vorbei, denn es gab keine Steuervergünstigungen und keine Berlinzulage mehr. Diejenigen, welche aus dem Bundesgebiet nach Berlin umgezogen waren blieben, wenn möglich, nicht mehr. Heiratswillige, denen man einen Zuschuss zur Gründung einer Familie in Westberlin gezahlt hatte, blieben von nun an aus. Die Folge war eine zunehmende Überalterung der Stadt.

 

Zusätzliche Zahlungen des Westens für die Transitstrecke gab es nun nicht mehr. Die Ossis mussten sich dem Westen angleichen. Zur Volksarmee brauchten sie zwar nicht mehr, jetzt war es die Bundeswehr.

Auch die Westberliner, die bisher vom Wehrdienst verschont und befreit waren, wurden auf ihre Wehrdiensttauglichkeit überprüft. Zum Glück hatte man noch die „Kasernen“ des Ostens, welche mit neuen Wappen verziert, genutzt werden konnten.

 

Die Westberliner und Bundesbürger, die zur Zeit der DDR ihre „armen“ Ossis unterstützt hatten, indem sie diesen „fast wöchentlich“ Pakete mit Westwaren geschickt hatten, wunderten sich, bei Fragen nach ihren Westartikel, dass diese nicht aufzufinden waren. Nur zögernd und wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ, bekamen sie zur Antwort, dass damit ein schwungvoller Handel getrieben worden war.

 

Oftmals konnten sie mit Westprodukten, die ihnen in Übermaßen geschickt wurden, selbst überhaupt nichts anfangen, da sie mit dem, was sie hatten, oder auch nicht, zufrieden waren und auskommen konnten. Was wollten sie auch mit einem „Schälmesser für Südfrüchte“ wenn es die gar nicht zu kaufen gab.

 

Die Wessis, so dachten diese, wollten doch nur helfen. An falschen Stellen, wo Hilfe überhaupt nicht nötig war, denn einige der Versandgüter verschwanden ohnehin bereits bei den Paketkontrollen der DDR.

 

Spätere Nachfragen der Wessis bei ihren Verwandten gingen in den Störungen der Telefonleitungen unter. Ansonsten wurden die Gespräche einfach unterbrochen. Briefe mit gleichlautenden Anfragen verschwanden auf dem „kleinen Dienstweg“.

 

Schlussvermerk

 

Es gäbe noch vieles zu berichten, doch ich möchte auch nicht ins unendliche verfallen.

 

Einen Gesamteindruck sollte wohl jeder für sich erhalten haben, denn irgendwann ist es auch genug.

 

Uns hat man auch lange genug Vergangenes vorgehalten, doch die Vergangenheit sollte Geschichte bleiben und nicht dazu dienen, die Wege für die Zukunft wieder erneut zuzumauern.

 

Gerne füge ich noch ein Kapitel über Erlebnisse von Lesern hinzu und hoffe, dass sehr rege davon Gebrauch gemacht wird.

 

Michael Thiée